Friedrich Dürrenmatt - Der Besuch der alten Dame
Die Käuflichkeit des Gewissens und die Demaskierung bürgerlicher Moral.
Wie viel ist unsere Moral eigentlich Wert, wenn der Wohlstand lockt? Diese Frage steht im Zentrum von Friedrich Dürrenmatts Tragikkomödie „Der Besuch der alten Dame” aus dem Jahre 1956. Das Stück konfrontiert die Leser mit der Erkenntnis, dass moralische Prinzipien nur solange halten, bis sie einem ernsthaften Belastungstest ausgesetzt werden.
Die verarmte Stadt Güllen erwartet den Besuch der ehemaligen Mitbürgerin Claire Zachanassian, die als junges Mädchen die Stadt verlassen musste und nun als Milliardärin zurückkehrt. Die Güllener hoffen auf ihre finanzielle Unterstützung und setzen auf Alfred Ill, den angesehenen Ladenbesitzer und designierten Bürgermeister, der als Claires ehemaliger Geliebter Einfluss zugunsten der Stadt auf sie ausüben soll. Als Claire eintrifft, offenbart sie allerdings ihre wahre Absicht: Sie bietet der Stadt eine Milliarde, unter der Bedingung, dass Alfred Ill getötet wird. Vor 45 Jahren hatte er sie schwanger im Stich gelassen, seine Vaterschaft vor Gericht geleugnet und sie damit in die Prostitution getrieben. Die Güllener weisen ihr Angebot zunächst empört zurück, doch allmählich beginnen sie auf Kredit zu leben und sich mit dem Gedanken an Ills Tod anzufreunden. Als die kollektive Bereitschaft zum Mord offensichtlich wird, akzeptiert Ill sein Schicksal. Die Bürger versammeln sich zu einer Gemeindeversammlung, in deren Verlauf Alfred Ill stirbt – angeblich an Herzversagen. Daraufhin nimmt Claire seinen Leichnam und verlässt die Stadt.
Zu Beginn des Stücks zeigen sich die Güllener als eine moralisch gefestigte Gemeinschaft, die trotz ihrer wirtschaftlichen Notlage an ihren Grundprinzipien festhält. Dies wird deutlich, als der Bürgermeister Claires Angebot mit den Worten zurückweist „Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.”(S.50). Diese moralische Empörung entpuppt sich jedoch als Theater. Claire durchschaut die Heuchelei der Güllener bevor sie überhaupt ihre wahren Absichten offen legt. So stellt sie dem Arzt die scheinbar beiläufige Frage „Interessant; verfertigen Sie die Totenscheine? [...] Stellen Sie in Zukunft Herzschlag fest”(S.30), und auch dem Pfarrer prophezeit sie indirekt die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Der moralische Verfall der Güllener vollzieht sich in einem schleichenden Prozess, der an konkreten Verhaltensänderungen sichtbar wird. Anfänglich zeigt sich der Wandel in der wachsenden Verschuldung der Bürger. Während sie öffentlich das Milliardenangebot ablehnen, beginnen sie auf Kredit zu leben. Diese frühzeitige Aneignung des noch nicht erhaltenen Reichtums manifestiert sich in alltäglichen Details: neue Schuhe, teure Zigarren, verbesserte Konsumgewohnheiten. Mit jedem neuen Kauf auf Kredit besiegeln sie unbewusst Ills Schicksal. Parallel dazu entwickelt die Güllener Gemeinschaft ein moralisches Narrativ, um ihre Handlungen zu rechtfertigen. Aus einem Mord aus Profitgier wird in ihrer Umdeutung ein Akt der Gerechtigkeit. Der Bürgermeister, der anfangs noch die Menschlichkeit beschwor, erklärt später, sie handelten aus „Gewissensnot” und moralischer Pflicht.
Die treibende Kraft hinter dieser moralischen Demaskierung ist Claire Zachanassian, deren komplexe Rolle im Stück einer näheren Betrachtung bedarf.
Claire Zachanassian tritt nicht bloß als rachsüchtige Ex-Geliebte auf, sondern nimmt eine fast übernatürliche Position ein. Der Lehrer beschreibt sie als „eine Parze, wie eine griechische Schicksalsgöttin” und ergänzt, dass „der traut man es noch zu, dass sie Lebensfäden spinnt.”(S.34)
Claires Weltsicht offenbart sich in einem kurzen Dialog. Als Ill bemerkt, sie könne immer reisen, entgegnet sie nur: „Weil sie mir gehört.” (S.38) Diese vier Worte enthalten die zentrale Erkenntnis des Stücks: Wer über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, kann sich die Welt untertan machen – Menschen, Moral und Gerechtigkeit eingeschlossen. Ihre physische Unverwüstlichkeit unterstreicht ihre Macht: „Von einem Flugzeugabsturz in Afghanistan. Kroch als einzige aus den Trümmern. Bin nicht umzubringen”(S.40). Diese körperliche Unverletzlichkeit steht metaphorisch für ihre unangreifliche Position – sie lässt sich weder einschüchtern noch manipulieren und behält stets die Kontrolle über die Situation. Claire hat von Beginn an mit dem moralischen Zusammenbruch der Güllener gerechnet. Sie braucht niemanden zum Mord zu überreden, sondern wartet geduldig: „Ich warte. [...] Es wird schon eine Konjunktur kommen.” (S.33). Wie sehr sie den Ausgang vorausgesehen hat, beweist der Sarg für Alfred Ill, den sie schon bei ihrer Ankunft mitführt. Als der Lehrer sie später angesichts der wachsenden Verschuldung der Bürger bittet, von ihrem Angebot zurückzutreten, kommentiert sie mit beißendem Spott: „Trotz der [abendländischen] Prinzipien?” (S.88). Mit dieser knappen Bemerkung entlarvt sie die Heuchelei der Bürger, die ihre moralischen Grundsätze bereits für materiellen Wohlstand aufgegeben haben.
Dürrenmatts radikale Gesellschaftskritik
Mit „Der Besuch der alten Dame” entfaltet Dürrenmatt eine Gesellschaftskritik, die über eine einfache Anklage des Kapitalismus hinausreicht. Im Zentrum steht die Enthüllung einer fundamentalen moralischen Brüchigkeit, die sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht. Die Güllener repräsentieren dabei eine Gesellschaft, deren ethische Grundsätze sich als inhaltslos erweisen, sobald materielle Anreize stark genug sind.
Diese Kritik erreicht ihren Höhepunkt als Claire die wahren Machtverhältnisse offenlegt. Mit der Enthüllung, dass die Stadt wirtschaftlich längst in ihrer Hand ist: „Gehören mir ebenfalls. Die Fabriken, die Niederung von Pückenried, die Petersche Scheune, das Städtchen, Straße um Straße, Haus für Haus.” (S.89f), demontiert sie die letzte Illusion der Güllener. Nicht nur ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit war Selbsttäuschung, sondern auch ihr moralisches Selbstbild. Indem Claire fortfährt: „Ließ den Plunder aufkaufen durch meine Agenten, die Betriebe stillegen. Eure Hoffnung war ein Wahn, euer Ausharren sinnlos, eure Aufopferung Dummheit, euer ganzes Leben nutzlos vertan”, führt sie den Bürgern vor Augen, dass sie bereits korrumpiert waren, lange bevor sie es sich eingestanden.
Darin liegt die eigentliche Provokation des Werks: Dürrenmatt kehrt die erwartete Rollenverteilung um. Claire ist nicht die primäre moralische Antagonistin, sondern funktioniert als ein Katalysator, der die verborgene Verkommenheit der Güllener an die Oberfläche bringt. Die wahre moralische Perversion liegt in der kollektiven Bereitschaft der Güllener, einen Mitbürger zu opfern und diesen Mord anschließend als Akt der Gerechtigkeit zu verklären. Die Bürger durchlaufen dabei einen erschreckend rationalen Prozess der Selbsttäuschung und moralischen Umdeutung, der ihre Handlungen vor ihrem eigenen Gewissen legitimieren soll.
Persönliche Meinung
Das Werk hat mir sehr gut gefallen. Ich habe es bereits mehrfach gelesen, die Verfilmung gesehen und auch eine Theateraufführung besucht. Generell schätze ich Dürrenmatts Fähigkeit, seinen Figuren eine gewisse Komik zu verleihen – sei es Claire Zachanassian in „Der Besuch der alten Dame” oder Mathilde von Zahnd in „Die Physiker”. Claire Zachanassian fasziniert mich in ihrer komplexen Rolle als Rächerin und gleichzeitig als Spiegel der Gesellschaft. Sie manipuliert nicht aktiv die Güllener, sondern schafft lediglich den Rahmen, in dem ihre latente moralische Korruption sichtbar wird.
Besonders beeindruckt hat mich die Zeitlosigkeit des Stücks. Es behandelt grundlegende moralische Fragen, bleibt dabei aber zugänglich. Der Schreibstil ist klar und in Alltagssprache gehalten, und die Handlung ist leicht nachzuvollziehen. Deshalb halte ich das Werk für einen idealen Einstieg in die Welt der klassischen Literatur – besonders für diejenigen, die nicht wissen, womit sie anfangen sollen.
Fazit
„Der Besuch der alten Dame” aus dem Jahre 1956 bleibt auch mehr als sechs Jahrzehnte nach seiner Entstehung ein Spiegelbild der menschlichen Schwäche. Dürrenmatts Tragikkomödie entfaltet ihre volle Wirkung in der Erkenntnis, dass moralische Werte letztlich Luxusgüter sind, die bei ausreichendem wirtschaftlichen Druck bereitwillig geopfert werden. Die scheinbar humane Fassade der Gesellschaft, die auf „abendländischen Prinzipien” beruht, zerbröckelt unter Claires kalkuliertem Druck wie ein brüchiges Gebäude. Die eigentliche Brillanz des Stücks liegt in der Demaskierung der bürgerlichen Selbsttäuschung. Die Güllener sind gewöhnliche Menschen, deren kleinbürgerliches Streben nach Sicherheit und Wohlstand sie Schritt für Schritt zur kollektiven Komplizenschaft führt. Ihre Selbsttäuschung – die Umwandlung eines Mordes aus Profitgier in einen Akt der Gerechtigkeit – spiegelt menschliche Mechanismen wider, die wir auch heute in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten beobachten können.
Claire Zachanassian verkörpert dabei die brutale Realität einer Welt, in der alles käuflich ist: “Ich kann sie mir leisten” – Gerechtigkeit ist keine Frage von Prinzipien, sondern von Kaufkraft. In ihrer grotesken Figur mit zahlreichen Prothesen – zusammengesetzt wie ein künstliches Wesen – manifestiert sich die entmenschlichende Kraft des Geldes selbst.
In diesem Theaterstück gelingt es Dürrenmatt, die scheinheilige Selbstgerechtigkeit einer Gesellschaft zu entlarven, die ihre Werte preist, solange dies keine Opfer kostet. Die Güllener repräsentieren nicht etwa ein absurdes, überzeichnetes Bild der Menschheit – sie sind vielmehr ein präziser Spiegel unserer eigenen sozialen Mechanismen.
“Der Besuch der alten Dame” bleibt auch nach Jahrzehnten provokant, weil die Frage nach dem Preis unserer Moral unbeantwortet im Raum steht. Es ist kein Zufall, dass Ill am Ende sein Schicksal akzeptiert – er erkennt, dass sein Tod lediglich das finale Kapitel in einer Geschichte ist, deren Ende von Anfang an feststand. Würden wir in einer ähnlichen Situation standhafter sein als die Bürger von Güllen? Die unbequeme Wahrheit ist: Vermutlich nicht.