Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“, uraufgeführt am 21. Februar 1962 im Schauspielhaus Zürich, thematisiert die ethischen Dilemmata und die gesellschaftliche Verantwortung, die aus wissenschaftlicher Erkenntnis entstehen können. In der Dramatik Dürrenmatts werden diese Themen durch die Kulisse einer psychiatrischen Anstalt und die Interaktion zwischen den Charakteren entwickelt, wodurch er tiefgehende Fragen nach der Rolle der Wissenschaft in der modernen Welt aufwirft.
In Dürrenmatts „Die Physiker“ dreht sich alles um drei Physiker, die in einer Anstalt untergebracht sind und vorgeben, geisteskrank zu sein. Einer der Männer ist Johann Wilhelm Möbius, ein Kernphysiker, der die „Weltformel“ entdeckt hat, mit der die Menschheit ausgelöscht werden könnte. Um die Welt vor dieser Gefahr zu schützen, gibt er vor, mit König Salomo sprechen zu können. Zusammen mit Möbius befinden sich zwei weitere Kernphysiker in der Anstalt, die sich angeblich für Newton bzw. für Einstein halten. Tatsächlich sind sie jedoch nicht in erster Linie Physiker, sondern Spione, die versuchen, an Möbius‘ Entdeckung zu gelangen.
Die Handlung nimmt eine Wendung, als alle drei Physiker ihre jeweiligen Krankenschwestern ermorden, um ihre Geheimnisse zu schützen. Nach den Morden entscheidet sich Möbius, seine gesamte Forschung zu vernichten, um so die Menschheit vor einer Katastrophe zu schützen. Jedoch hat Mathilde von Zahnd, die Leiterin der Anstalt, heimlich sämtliche Aufzeichnungen von Möbius kopiert. Im Auftrag von König Salomo plant sie, die Weltformel für die Weltherrschaft zu verwenden. Die Physiker, nun öffentlich als Mörder und Verrückte gebrandmarkt, sind machtlos und bleiben eingesperrt, unfähig, von Zahnds Pläne zu stoppen.
Dürrenmatts Werk zeichnet sich durch einen klassischen dramatischen Aufbau aus, der klar strukturiert und übersichtlich gestaltet ist. Das gesamte Stück spielt in einer psychiatrischen Einrichtung und ist zeitlich auf wenige Stunden an einem einzigen Ort begrenzt. Diese strikte Einhaltung der klassischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung schafft eine intensive Atmosphäre, die die dramatische Spannung steigert. Das Stück ist in zwei Akte gegliedert. Im ersten Akt werden die Hauptfiguren und die Grundkonstellation der Handlung eingeführt, während der zweite Akt die Handlung intensiviert und in einer Katastrophe mündet.
Die Beschreibung der Umgebung, in der die Handlung stattfindet, trägt eine soziale und kulturelle Kritik in sich. Die Transformation einer idyllischen Stadt mit Schloss und Altstadt durch „gräßliche Gebäude der Versicherungsgesellschaften“ (S.11) zeigt den Verlust von kulturellen und ästhetischen Werten in der postmodernen Gesellschaft. Dies spiegelt sich auch in der Umwandlung des Sanatoriums wider, das von einem Ort der Heilung zu einem Schauplatz morbider Ereignisse geworden ist.
Die wichtigsten Figuren in diesem Werk sind unter anderem Möbius, Einstein, Newton und Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd
Johann Wilhelm Möbius ist der moralische Mittelpunkt des Werkes. Als verantwortungsbewusster Wissenschaftler, der die „Weltformel“ entdeckt hat, erkennt er das zerstörerische Potential seiner Arbeit. Um die Menschheit zu schützen, behauptet er, König Salomon habe sich ihm offenbart. Dies veranlasst ihn, seine Familie und seine Karriere aufzugeben und sich selbst in ein Sanatorium einzuweisen. Als seine geliebte Krankenschwester seine Pläne gefährdet, muss er sie töten.
Herbert Georg Beutler, der sich als Einstein ausgibt, ist einer der Geheimagenten im Stück. Seine Rolle im Sanatorium ist es den geistig Kranken zu spielen, während er tatsächlich versucht, an die Geheimnisse von Möbius zu gelangen. Ernst Heinrich Ernesti, der sich als Isaac Newton ausgibt, ist ebenfalls ein Spion. Wie Beutler (Einstein) ist auch er im Sanatorium, um Möbius auszuspionieren.
Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd, die Psychiaterin und Besitzerin des Sanatoriums ist eine der komplexesten Figuren im Stück. Oberflächlich erscheint sie als eine fürsorgliche Leiterin. Als die Familie von Möbius erscheint, stimmt sie einem Treffen zu (vgl. S. 32). Sie bringt Verständnis für Lina auf: „Frau Rose! Sie brauchen sich nicht zu grämen“ (S. 35). Zahnd bietet Trost an: „Nicht doch, Frau Rose, nicht doch. Keine Tränen“ (S. 35) und spricht ihr Mut zu: „Sie sind eine mutige Frau“ (S. 35). Sie erklärt sich bereit, sich künftig um finanzielle Unterstützung für Möbius zu bemühen (vgl.S. 35). Mit ihrem einfühlsamen Verhalten: „Mein braver Möbius“ (S. 36), gelingt es ihr, das Vertrauen ihrer Patienten zu erlangen. Im abschließenden Gespräch mit den drei Physikern offenbart sich Mathilde von Zahnd als manipulative, skrupellose Figur mit wahnsinnigen Zügen. Sie erklärt, dass ihr König Salomo erschienen sei, beschreibt ihre Begegnung so: „Zuerst in meinem Arbeitszimmer. An einem Sommerabend. Draußen schien noch die Sonne, und im Park hämmerte ein Specht, als auf einmal der goldene König heranschwebte“ (S. 82). Sie betrachtet sich als Auserwählte: „… und so suchte er mich auf, seine unwürdige Dienerin“ (ebd.). Laut ihrer Aussage wies Salomo sie an, die wissenschaftlichen Arbeiten von Möbius zu entwenden, weswegen sie ihn auch über Jahre hinweg medikamentös unterdrückte. Die Papiere habe sie insgeheim kopiert, um Möbius‘ revolutionäre Ideen zu kapern, kommerziell zu nutzen und finanziell daraus Gewinn zu schlagen (S. 83). Von Größenwahn getrieben, plant sie, ein globales Imperium zu errichten, das die Weltherrschaft an sich reißt: „Mein Trust wird herrschen, die Länder, die Kontinente erobern, das Sonnensystem ausbeuten, nach dem Andromedanebel fahren“ (S. 85).
Durch den schlichten und schmucklosen Sprachstil ist Dürrenmatts Werk für jeden zugänglich. Typisch für eine Tragikomödie, funktioniert die Sprache darin, um das Groteske hervorzubringen. Es fallen immer wieder Paradoxa auf wie zum Beispiel Möbius‘ Aussage: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff“ (S. 75) oder Einsteins Aussage über Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd: „Sie muss interniert werden. Sie gehört in ein Irrenhaus“ (S.82). Diese Aussagen verleihen dem Stück eine absurde Qualität, die typisch für das Groteske ist und die Zuschauer gleichzeitig zum Nachdenken anregt und unterhält. Darüber hinaus werden Antithesen wie „Verrückt, aber Weise. Gefangen aber frei“ (S.77) benutzt. Diese Antithese verdeutlicht die groteske Umkehrung von normalerweise gegensätzlichen Zuständen. Sie zeigt auf, wie nahe Wahnsinn und Weisheit beieinander liegen und wie physische Gefangenschaft paradoxerweise zu einer Art geistiger Freiheit führen kann.
In Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ wird eine tiefgehende Gesellschaftskritik entfaltet, die insbesondere die Verantwortlichkeiten und Moralvorstellungen von wissenschaftlichen Entscheidungsträgern hinterfragt. Das Stück nutzt die Geisteskrankheit seiner Protagonisten als metaphorisches Element, um die Grenzen der Vernunft sowie die Gefahren von Machtmissbrauch und ethischer Verantwortungslosigkeit in der Wissenschaft und Politik zu beleuchten. Die wissenschaftliche und politische Elite wird symbolisch in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht, was ihre vermeintliche Rationalität und Kompetenz in Frage stellt (vgl. S.12).
Die Hauptfiguren, insbesondere der Kernphysiker Möbius, nutzen den Wahnsinn als Tarnung, um seine wahre Identität und die Brisanz seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verbergen. Möbius repräsentiert das ethische Gewissen der Wissenschaft und betont die Notwendigkeit eines wissenschaftlich fundierten Ansatzes: „Wir müssen wissenschaftlich vorgehen. Wir dürfen uns nicht von Meinungen bestimmen lassen, sondern von logischen Schlüssen“ (S.72). Dies steht im Kontrast zu anderen Figuren wie Newton und Einstein, die unterschiedliche Ansichten über die Freiheit und die politische Instrumentalisierung der Wissenschaft vertreten. Newton behauptet: „Es geht um die Freiheit unserer Wissenschaft und um nichts weiter. Wir haben Pionierarbeit zu leisten und nichts außerdem“ (S. 70), während Einstein die Notwendigkeit anerkennt, die Wissenschaft den politischen Zielen eines Landes unterzuordnen: „Ich kann natürlich nur hoffen, die Partei befolge meine Ratschläge, mehr nicht“ (S.73).
Die Entscheidung von Möbius, sich als wahnsinnig darzustellen, ist eine Maßnahme, um sich und seine Forschungsergebnisse aus der Welt zurückzuziehen und einen Raum für freies Denken zu schaffen, ohne dass seine Gedanken missbraucht werden. Diese Entscheidung verdeutlicht das Paradox, dass in einer Welt, in der Wissen Macht ist und missbraucht werden kann, der Rückzug in den Wahnsinn die einzige verbleibende Form der Freiheit sein könnte. Möbius thematisiert offen die dunklen Seiten der wissenschaftlichen Forschung und die tödlichen Konsequenzen des Wissens: „Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich“ (S.74).
Mathilde von Zahnd, die Leiterin des Sanatoriums und Entdeckerin der wahren Pläne der Physiker, nutzt ihre Erkenntnisse für eigennützige, machtgierige Zwecke und verdeutlicht, wie eng Wahnsinn und Macht miteinander verknüpft sein können. Dürrenmatt hinterfragt, ob eine klare Trennlinie zwischen Vernunft und Wahnsinn existiert und inwiefern unsere Gesellschaft dazu beiträgt, Wahnsinn zu definieren oder sogar zu fördern.
In Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ wird die biblische Figur des Königs Salomo als zentrales Motiv verwendet, um die Komplexität der menschlichen Natur sowie die Ambivalenz von Wissen und Macht zu reflektieren. Salomo, der im 10. Jahrhundert v. Chr. Herrscher des geeinten Königreichs Israel war und für den Bau des Tempels in Jerusalem, seine Weisheit und seine gerechten Urteile berühmt wurde, dient als Hintergrundfigur, die sowohl Johann Wilhelm Möbius als auch Mathilde von Zahnd in ihren Visionen erscheint.
König Salomon wird für Möbius zu einer Schutz- und Leitfigur. Möbius ist sich der enormen Verantwortung und der potenziell verheerenden Auswirkungen seiner Entdeckungen bewusst und nutzt die Visionen Salomos als Schutzmechanismus. Indem er vorgibt, von Salomo geleitet zu werden, stellt er seine eigene geistige Gesundheit in Frage und entzieht sich den ethischen Dilemmata, die sein Wissen mit sich bringen könnte. Diese Darstellung verwendet Salomo als Symbol der Weisheit und unterstützt die Vorstellung, dass Möbius‘ Handeln von höheren, fast göttlichen Einsichten geleitet wird.
Im Gegensatz dazu interpretiert Mathilde von Zahnd ihre Visionen von Salomo als Bestätigung und göttlichen Auftrag, ihre Macht zu erweitern und die Welt zu beherrschen. Für von Zahnd ist Salomo eine Legitimierung für ihre expansiven und autoritären Ambitionen. Sie sieht sich als auserwählte Herrscherin, deren Handeln durch Salomos historische Weisheit und Führung gerechtfertigt wird.
Die Verwendung von König Salomo in „Die Physiker“ spiegelt die tiefe Ambivalenz der Wissenschaft und dem Umgang mit Wissen wider. König Salomo ist ein Paradox: verehrt für seine Weisheit und Urteilsvermögen, doch zugleich kritisiert für seine moralischen Verfehlungen. Diese Dualität reflektiert sich in den Charakteren von Möbius und von Zahnd, die in ihren Visionen von Salomo sowohl Weisheit als auch Wahnsinn verkörpern.
Dürrenmatt verwendet die Figur Salomos, um das Groteske und Paradoxe in der menschlichen Existenz und insbesondere in der wissenschaftlichen Unternehmung zu beleuchten. Salomo dient als metaphorisches Mittel, um die Themen von Macht, Verantwortung und der potenziell zerstörerischen Natur des menschlichen Strebens zu erforschen. In den Visionen der beiden Hauptfiguren manifestieren sich sowohl die Hoffnung die Welt zu retten als auch die gefährliche Illusion, dass jedes Mittel gerechtfertigt ist, wenn es einem höheren Zweck dient.
Persönliche Meinung:
„Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt hat mich besonders durch seine Komödie und die tiefgehenden gesellschaftlichen sowie philosophischen Fragen beeindruckt. Das Stück wirft ein schlaglichtartiges Fragen auf: Wer ist heute normal? In einer Gesellschaft, in der alltägliche psychische Belastungen zunehmend als klinische Störungen angesehen werden, eröffnet Dürrenmatt eine Diskussion über die Pathologisierung des Alltags. Diese Darstellung fordert das Publikum heraus, die Definition von Wahnsinn zu überdenken und zu hinterfragen, wer eigentlich die wirklichen Verrückten sind.
Das Stück fungiert nicht nur als eine Unterhaltung oder ein künstlerisches Erlebnis, sondern vielmehr als ein philosophisches Gedankenexperiment, das die Zuschauer dazu einlädt, die konventionellen Grenzen zwischen Wahnsinn und Vernunft zu hinterfragen. Diese Thematik ist besonders relevant in einer Zeit, in der psychische Gesundheit und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung immer mehr in den Vordergrund rücken.
Dürrenmatt gelingt es, diese komplexen Fragen in einem zugänglichen und dennoch herausfordernden Format zu präsentieren, das sowohl unterhält als auch zum kritischen Denken anregt. Seine Fähigkeit, tiefgründige philosophische und ethische Fragen innerhalb der Struktur eines dramatischen Werks zu verarbeiten, macht „Die Physiker“ zu einem zeitlosen Stück, das auch heutige Leserinnen und Leser anspricht und herausfordert.
Fazit:
„Die Physiker“ bleibt ein herausragendes Beispiel dafür, wie Theater als Medium zur Reflexion und Kritik gesellschaftlicher Normen dienen kann. Friedrich Dürrenmatt nutzt die Komödie geschickt, um fundamentale Fragen über die Rolle der Wissenschaft, die Ethik der Macht und das Wesen der Realität zu stellen. Durch die Einbettung dieser Fragen in eine tragikomische Handlung fordert das Stück seine Leser heraus, ihre Vorstellungen von Normalität, Wahnsinn und Vernunft zu überdenken.
Die Aktualität des Stücks, insbesondere in Bezug auf die Diskussionen um psychische Gesundheit und die Wissenschaftsethik, bestätigt seinen anhaltenden Wert und seine Bedeutung für ein modernes Publikum. „Die Physiker“ bietet nicht nur Unterhaltung und künstlerisches Erlebnis, sondern fungiert auch als philosophisches Gedankenexperiment, das dazu anregt, die konventionellen Grenzen unseres Verständnisses zu hinterfragen und bietet somit eine tiefe, nachhaltige Wirkung.
Dürrenmatts Integration tiefgründiger philosophischer und ethischer Fragen in die Struktur eines dramatischen Werks macht „Die Physiker“ zu einem zeitlosen Kunstwerk. Es bleibt ein unverzichtbares Stück für alle, die sich für die Schnittstellen von Wissenschaft, Gesellschaft und menschlicher Moral interessieren.