Max Frisch - Andorra
„Ich bin nicht schuld“ – Die Tragödie des kollektiven Selbstbilds
Max Frischs „Andorra“, am 2. November 1961 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, ist ein Stück, das sich weigert, bloß Theater zu sein. Es spricht, bekennt, klagt an – und lässt zugleich keine einfachen Urteile zu. Als ich es las, fiel mir auf, wie jedes einzelne Wort mit Bedeutung aufgeladen ist. Anders als bei Dürrenmatts „Die Physiker“ oder „Der Besuch der alten Dame“, deren Dialoge sich im Realistischen verankern, hebt Frisch die Sprache ins Bildhafte. Nichts an diesem Text will zufällig sein. Und nichts daran lässt den Leser unbeteiligt.
„Andorra“ erzählt die Geschichte eines jungen Mannes namens Andri, der in einem fiktiven Land aufwächst, das sich seiner eigenen Vorurteile nicht bewusst ist. Offiziell gilt er als adoptiertes jüdisches Kind, das von einem Lehrer vor den Schwarzen gerettet wurde. Die Bewohner Andorras begegnen ihm mit Ablehnung und Misstrauen. Für sie ist er nur ein „Jud“. In der Tischlerei, in der Andri arbeitet, wird er verleumdet, vom Arzt verspottet und vom Lehrer zurückgewiesen. Selbst Barblin, die ihn liebt, kann ihn nicht schützen. Ein Pfahl steht mitten im Ort, offen sichtbar – doch niemand will ihn wahrhaben. Als die Schwarzen schließlich Andorra überfallen, kommt es zur Judenschau. Andri wird abgeführt und getötet.
Gleich zu Beginn steht ein Bild, das sich als Schlüsselmotiv durch das gesamte Stück zieht: die weiße Tünche. Barblin weißelt die Mauern Andorras, der Pater lobt ihr Werk: „Ein schneeweißes Andorra“ solle es werden, wenn bloß kein Platzregen komme. Doch der Soldat bricht in Gelächter aus: „[…] das saut euch jedes Mal die Tünche herab, als hätte man eine Sau drauf geschlachtet […]“ (S. 11). Die Reinheit ist nur eine Fassade. Das scheinbar unschuldige Andorra ist aus Erde gemacht – rot, blutig, vergänglich. Schon hier kündigt sich das eigentliche Thema an: der Kontrast zwischen Selbstbild und Wirklichkeit, zwischen dem Wunsch, „unschuldig“ zu sein, und der Tatsache, dass Schuld sich nicht wegwaschen lässt.
Andri, die zentrale Figur, ist kein Individuum mit eigener Kontur, sondern eine Projektionsfläche für die Vorstellungen und Vorurteile der anderen. Von außen wird er als „Jud“ bezeichnet, ohne je als solcher gelebt zu haben. Frisch entwirft eine Gesellschaft, die weniger an Wahrheit interessiert ist als an einem Bild, das ihr zur Selbstvergewisserung dient. „Plötzlich bist du so, wie sie sagen“, sagt Andri – und dieser Satz ist sein Todesurteil. Das Vorurteil wird zur Wahrheit, weil es unablässig wiederholt wird. Andri übernimmt schließlich das Bild, das man ihm aufdrängt, und verliert sich selbst dabei. Seine innere Tragödie ist die eines Menschen, dem jede selbstgewählte Identität verweigert wird. Er sagt: „Ich bin nicht anders. Ich will nicht anders sein.“ (S. 58) Doch das genügt nicht, um angenommen zu werden.
Frisch interessiert sich nicht für das Geschehen, sondern für das Danach. Die Handlung ist bereits abgeschlossen, als das Drama beginnt. Was wir sehen, sind Versuche der Distanzierung – Zeugenaussagen, Geständnisse, Erinnerungen, Verteidigungen. Fast jede Figur betont: „Ich bin nicht schuld.“ Der Wirt, der Tischler, der Geselle, der Soldat – sie alle gestehen ein, dass sie Andri nicht mochten, dass sie ihn vielleicht missverstanden, dass sie etwas taten oder unterließen. Doch schuldig fühlt sich niemand. Diese Aussagen wirken wie Stimmen aus einem realen Tribunal – direkt übernommen aus der Rhetorik der Nachkriegszeit, in der sich viele Deutsche mit denselben Floskeln von ihrer Verstrickung reinzuwaschen versuchten. In ihrer Gesamtheit dienen diese Bekenntnisse nicht der Aufarbeitung, sondern dem kollektiven Selbstschutz.
Ein zentrales Symbol des Stücks ist der Pfahl. Andri wird am Ende an ihn gebunden, doch lange vorher steht dieser Pfahl auf dem Platz von Andorra – sichtbar für alle. Der Lehrer fragt: „Ist das ein Pfahl oder ist das kein Pfahl?“ (S. 14) Alle leugnen es, alle sehen weg. Der Pfahl ist das Sinnbild einer Gesellschaft, die das Offensichtliche ignoriert, bis es zu spät ist. Und er steht auch für die Projektion der Gesellschaft: Denn auf Andri wird all das geladen, was die Andorraner nicht bei sich selbst sehen wollen – Angst, Hass, Schuld. Der Pfahl ist ursprünglich kein Galgen, doch durch die Bedeutung, die man ihm gibt, wird er zur Hinrichtungsstätte.
Auch religiöse Motive durchziehen das Theaterstück. „Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, deinem Herrn, und nicht von den Menschen, die seine Geschöpfe sind“ (S. 62), sagt der Pater – und bekennt doch, dass auch er ein Bild gemacht hat, das Andri gefesselt hat. Frisch wendet sich gegen jede Form ideologischer Erstarrung: gegen das rassistische Vorurteil, gegen die trügerische Reinheit der Kirche, gegen das Selbstbild eines Landes, das sich für „unschuldig“ hält. In der Figur des Paters wie in der des Lehrers kulminiert die Schuldfrage auf tragische Weise: Beide wollten das Richtige, beide haben versagt.
Und auch Barblin – die Lehrerstochter, die Andri liebt – bleibt nicht unversehrt. Ihr Weißeln, diese so stille wie verzweifelte Handlung, wird zum Sinnbild einer Welt, die sich nach Reinheit sehnt, wo längst Schuld und Gewalt wuchern. Aber Barblin ist keine Täterin, keine Mitläuferin. Sie liebt Andri, sie glaubt an ihn – und sie zerbricht daran, dass niemand sonst es tut. Am Ende kehrt sie zurück, verstört, verwirrt, traumatisiert. Ihre Sprache ist kindlich geworden, das Denken entrückt. Barblin ist keine moralische Instanz, sondern das letzte Opfer der kollektiven Lüge: die, die alles mit ansehen musste – und daran den Verstand verlor
Fazit:
Max Frischs Andorra ist ein Stück über ein Land, das nicht existiert – und doch überall sein könnte. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht wegen dem, was er ist, sondern wegen dem, was andere in ihm sehen, untergeht. Andri wird nicht gehasst für sein Handeln, sondern für ein Bild, das man ihm aufdringt. Und niemand fühlt sich verantwortlich. „Ich bin nicht schuld“, sagen sie alle – der Wirt, der Tischler, der Pater. Alle schauen zu. Keiner greift ein.
Das Stück erzählt von kollektiver Blindheit, von Sprachlosigkeit, von der gefährlichen Macht der Zuschreibung. In einer Welt, die sich für „sauber“ hält, ist der Pfahl auf dem Dorfplatz nicht zu sehen – bis es zu spät ist. Die weiße Farbe, mit der Barblin die Mauern streicht, wird zum Symbol einer verzweifelten Reinwaschung. Doch Reinheit gibt es nicht. Nur Verdrängung.
Frischs Andorra ist keine historische Parabel. Es ist ein Blick in den Spiegel einer Gesellschaft, die sich lieber belügt, als hinzusehen. Ein Stück über Angst, Ausreden und das Schweigen der Mehrheit – und darüber, wie schnell ein Mensch zu dem wird, was andere in ihm sehen wollen.